Gut zu wissen

Medizin ist eine begrenzte Hilfe in einer begrenzten Lebenszeit

Interview mit dem Medizinethiker Professor Dr. Fred Salomon vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie

Vor dem Hintergrund der COVID-19-Krise und der bitteren Erfahrungen in anderen Ländern werden komplizierte medizinethische Fragen derzeit in der breiten Öffentlichkeit debattiert. Sollen schwerstkranke Patientinnen und Patienten weiterbehandelt werden oder nicht? Wer darf entscheiden, wem beispielsweise die Beatmungsgeräte zugeteilt werden? Der Medizinethiker Professor Dr. Fred Salomon sortiert die Argumente und gibt im Interview Hilfen für diese Überlegungen.

 

Welche ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus der ersten Welle der COVID-19-Pandemie?
 

Fred Salomon: Es ist mir erneut sehr bewusst geworden, dass wir Mediziner Grenzen haben, die wir akzeptieren müssen. So müssen wir Behandlungen einstellen, mit denen wir kein für den Patienten tragbares Therapieziel mehr erreichen können, sondern nur einen Zustand, der nicht wünschenswert ist. Das wird oft nicht akzeptiert – von Angehörigen, Betroffenen und auch nicht von Medizinern. Sie sehen das als Niederlage an. Aber: Ein Mensch muss in Ruhe sterben dürfen. Dann geht es darum, ihm ein schmerz- und beschwerdefreies Ende zu ermöglichen.



Wer entscheidet, was ein wünschenswerter Zustand ist?
 

Fred Salomon: Als erstes ist der Wunsch des informierten Patienten wichtig. Dabei hilft die Patientenverfügung. Darin legt ein Mensch fest, welches Therapieziel für ihn sinnvoll ist. Sie ist zu beachten. Das gilt auch in COVID- 19-Zeiten. Die lebensbedrohliche Situation und die Patientenverfügung müssen in Deutschland ärztlich beurteilt werden. Das führt leider zu unnötigen Notarzteinsätzen und ungewollten Klinikaufnahmen. Dem kann man mit dem Konzept „Advance-Care-Planning“ (ACP) begegnen, auf Deutsch „beizeiten begleiten“. Professionell geschultes Personal führt mit Menschen intensive Gespräche und hilft ihnen, konkrete Wünsche und Vorstellungen für zukünftige medizinische Behandlungen zweifelsfrei zu formulieren. Das hilft auch den Pflegenden, in einem Notfall den Patientenwillen ohne zusätzlichen Arzteinsatz umzusetzen. So wird eine ungewollte Therapieeskalation verhindert.
 


Und was ist das zweite?
 

Fred Salomon: Die medizinische Indikation. Dabei muss auf ärztlicher Seite gefragt werden: Kann ich den derzeitigen Krankheitszustand mit dieser Maßnahme behandeln? Alte Menschen sind oft mehrfach krank, also multimorbide, da lässt sich manche Behandlung gar nicht mehr durchführen. Sichere Indikation bedeutet: Es besteht eine große Chance, dass der Patient überlebt. Zweifelhafte Indikation heißt: Vielleicht einer von 100 würde überleben. Keine Indikation für die Behandlung besteht, wenn das nicht mehr hilft, was wir tun können. Doch wenn Ärztin oder Arzt noch gute Chancen sehen, der Patient das aber nicht will, muss dessen Wille höher bewertet werden als die Indikation.
 


Was bedeutet das für Menschen im Pflegeheim, wenn sie zudem an COVID-19 erkranken?
 

Fred Salomon: Menschen, die sich aufgrund einer Multimorbidität in ihren letzten Monaten befinden und lebensverlängernde Maßnahmen für sich bereits ausgeschlossen haben, sollte man nicht noch in eine Klinik verfrachten. Das entlastet die Intensivstation und hilft unmittelbar denen, deren Chancen auf Überleben groß sind.



In Italien standen die Ärztinnen und Ärzte genau vor diesem Dilemma: Entscheiden zu müssen, wem sie eines der relativ wenigen Betten mit Beatmungsgerät geben. Wie verkraftet man diese Entscheidung über Tod und Leben – nicht nur in Corona-Zeiten?
 

Fred Salomon: Hinterher muss man reden, reden, reden, in Gesprächen das Geschehene verarbeiten. Aber schon vorher muss man sich in Fortbildungen auf solche Situationen vorbereiten. Das machen wir zum Beispiel in unserer Mobilen Ethikberatung: Zur Schulung besprechen wir Fälle und simulieren dann auch Situationen, in denen wir zwischen Leben und Tod entscheiden müssen. In Rollenspielen üben wir, wie man sich verhält, was man den Angehörigen sagt, der Patientin oder dem Patienten selbst. Man muss seine eigene Position finden: Welche Rolle habe ich, wie ist meine Grundhaltung, wie lautet meine Überzeugung? „Scheitere“ ich, wenn jemand stirbt, oder akzeptiere ich die Grenze meiner medizinischen Möglichkeiten?



Was hilft einem dabei?
 

Fred Salomon: Mir persönlich hilft mein Glaube. Ich trage ihn natürlich nicht vor mir her. Aber dieses Wissen, dass Medizin eine begrenzte Hilfe in einer begrenzten Lebenszeit ist, das macht bescheiden. Ich bin Dienstleister, nicht Wunderheiler. Bescheidenheit gehört zur Professionalität dazu. Demut ist eine gute Haltung. Dafür muss man nicht einmal religiös sein. Ich habe Mediziner erlebt, die in einer bedrohlichen Situation wie aufgescheuchte Hühner umherrannten, weil sie nicht wussten, wo ihre Position in dem Ganzen ist. Zudem benötigt man Rückhalt im Team, man muss sich miteinander austauschen können. Die Verantwortlichen sollten die Möglichkeit schaffen, angstfrei über diese Themen zu reden.



Aber mag man mit Kolleginnen und Kollegen freimütig über Grenzsituationen reden, über Misslungenes, übers Scheitern. Auch angesichts von Konkurrenzkampf und Karrierezielen?
 

Fred Salomon: Als neuer Chefarzt habe ich damals in der Visite auch die Pflegenden gefragt: „Wie sehen Sie das?“ Im ersten halben Jahr haben die gedacht, ich will etwas erfahren, um sie hinterher in die Pfanne zu hauen. Im Laufe der Zeit haben sie die Teamgespräche aber sogar eingefordert. Auch die Ärzte merkten, dass es dem Team etwas bringt, und haben diesen Austausch unterstützt. Der muss allerdings richtig institutionalisiert werden. Man muss ein Zeitfenster einmal pro Tag oder einmal die Woche dafür offenhalten, nicht erst, wenn die Dinge hochgekocht sind.



Am Anfang der COVID-19-Pandemie hat es in Europa vor allem Italien und Spanien getroffen, dort waren die „Grenzen der Medizin“ sehr schnell erreicht. Das war eine traurige, aber zugleich nachdrückliche Warnung an andere Länder. Deutschland hat unter der Parole „flatten the curve“ reagiert. Wie bewerten Sie das?
 

Fred Salomon: Die deutsche Politik hat gut reagiert. Auch die allgemeine Disziplin, die Regeln einzuhalten, war in Deutschland so groß, dass wir nicht vor der Entscheidung standen, intensivmedizinische Ressourcen zuzuteilen. Gerade in den Wochen vor COVID-19 war ja die Diskussion entbrannt, dass wir zu viele Krankenhäuser und zu viele breit aufgestellte Intensivstationen hätten. Das war nun aber unser Glück. Sicher werden wir unter dem Eindruck der Pandemie diese Diskussion anders weiterführen. Es gibt zwei Erkenntnisse: Wir müssen Überkapazitäten behalten, denn solche Krankheiten werden wiederauftauchen. Und wir müssen medizinisches Material auch in Deutschland und nicht nur in Asien produzieren.
 


Sie arbeiten in der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin – DIVI – mit. Als Kollegen und Kolleginnen verschiedener Fachgebiete haben Sie im April in einer Leitlinie festgehalten: „Selbst mit Überkapazitäten erscheint es sogar für Deutschland möglich, dass die intensivmedizinischen Ressourcen nicht für alle Patienten ausreichen." Darum haben Sie in der Leitlinie ganz praktische Handlungsempfehlungen herausgegeben. Worum ging es Ihnen dabei?
 

Fred Salomon: Als wir die Entwicklung in Italien gesehen haben, haben wir gesagt: Wir müssen uns dazu äußern, denn diese Fragen sind schon immer unsere Fragen in der Intensiv- und Notfallmedizin gewesen. Wir benötigen jetzt ganz schnell Hilfen für genau solche Entscheidungssituationen wie: Wer bekommt ein Bett? Die Empfehlungen sollen den verantwortlichen Akteuren – Pflegenden, Ärztinnen, Ärzten – medizinisch und ethisch begründete Kriterien und Verfahrensweisen an die Hand geben, wenn es hart auf hart kommt. In solchen emotional und moralisch herausfordernden Momenten muss man schnell entscheiden, da ist es wichtig, sich auf gut durchdachte Überlegungen stützen zu können. Diese Entscheidungen müssen medizinisch begründet sein und dürfen nicht Alter, Behinderung oder soziale Kriterien zum Maßstab haben. Außerdem müssen klinische Einrichtungen Zeiten zur Verfügung stellen, in denen man diesen Ernstfall üben kann. Begleitet von einem Außenstehenden, einem Konsiliar, der das behandelnde Team ethisch berät.
 


Wie sehen Sie als Arzt die Lockerungen, die inzwischen gelten?
 

Fred Salomon: Man muss außerordentlich vorsichtig sein. Wir dürfen keinen Leichtsinn entwickeln. Wer die Krankheit überstanden hat, ist vermutlich immun. Das reicht aber nicht für die gesamte Bevölkerung.
 


Manche sagen, lasst uns alle anstecken, dann erreichen wir die Herdenimmunität von 80, 90 Prozent.
 

Fred Salomon: Dann muss man in Kauf nehmen, dass erstens das System überlastet wird und dass zweitens viele sterben. Dabei haben auch schwer Erkrankte eine Überlebenschance von 50 Prozent, wie eine Statistik von Ende Juli zeigt.1 Die Voraussetzung dafür ist, dass Personal und Beatmungsgeräte ausreichend vorhanden sind. Darum gilt nach wie vor das Motto „flatten the curve!“




Das Gespräch führte Antje Borchers aus der Unternehmenskommunikation.


 



Prof. Dr. Fred Salomon war 24 Jahre lang Chefarzt der Anästhesie/Intensivmedizin im Klinikum Lemgo und sieben Jahre Ärztlicher Direktor im Klinikum Lippe. In dieser Zeit hat er das Klinische Ethik-Komitee Lippe aufgebaut und geleitet. Da der Mediziner auch studierter Theologe ist, war er vom ersten Tag seiner ärztlichen Tätigkeit an mit ethischen Fragen konfrontiert. Er hat sich wissenschaftlich mit der Thematik beschäftigt und 1990 als erster Mediziner in Ethik habilitiert. Auch im Ruhestand engagiert er sich für die Mobile Ethikberatung in Lippe (MELIP), bildet medizinische Nachwuchskräfte für Grenzsituationen am OP-Tisch und im Notarztwagen aus, hält Vorträge und veröffentlicht in Fachzeitschriften und Fachbüchern.
 



ENTSCHEIDUNGSGRUNDLAGEN BEI RESSOURCENKNAPPHEIT
 

"Wenn die Ressourcen nicht ausreichen […], muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden. Es erfordert transparente, medizinisch und ethisch gut begründete Kriterien für die dann notwendige Priorisierung. Ein solches Vorgehen kann die beteiligten Teams entlasten und das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement in den Krankenhäusern stärken. Die Priorisierungen erfolgen dabei ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern mit der Zielsetzung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen. […]

Die Priorisierung von Patienten soll sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. […] Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots

  • nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten
  • und nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen."

Auszug aus der S1-Leitlinie AWMF-Registernummer 040-013 der DIVI – Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.
www.awmf.org/leitlinien/

 


1 Ergebnisse einer Beobachtungsstudie mit 10.021 Patienten in Deutschland, online veröffentlicht in "The Lancet" am 28.07.2020:  www.doi.org/10.1016/S2213- 2600(20)30316-7.