Gut zu wissen

Bundesgerichtshof stellt klar: Aufklärung muss individuell erfolgen

Ein Aufklärungsbogen ersetzt das mündliche Aufklärungsgespräch nicht, denn die Aufklärung muss sich am individuellen Risikoprofil der Patientin oder des Patienten orientieren. Verharmlost das Formular beispielsweise spezifische, in der Person des Patienten liegende Risiken und ruft damit eine Fehlvorstellung über die mit dem Eingriff verbundene Komplikationsgefahr hervor, trifft die Ärztin oder den Arzt ein Aufklärungsversäumnis, sofern sie beziehungsweise er nicht im Gespräch über das tatsächliche Risiko für die Person aufgeklärt hat. So hat der Bundesgerichtshof am 16. August 2022 entschieden (Az.: VI ZR 342/21).

Sandra Miller, Fachjuristin für Medizinrecht in unserer Unternehmensgruppe, berichtet.


Der Fall

Bei der Klägerin im vorliegenden Fall ist ein großer Tumor am im Schädel befindlichen rechtsseitigen Keilbein­flügel festgestellt worden. Der Tumor soll entfernt werden. Im Aufklärungsgespräch erhält die Klägerin einen Aufklärungsbogen, der wie folgt lautet.
 


„Vorgesehene Maßnahme große Tumoroperation!

Ein Tumor kann je nach Lokalisation folgende Symptome verursachen:

  • Kopfschmerzen (durch zunehmendes Tumorwachstum, durch Ödembildung oder durch Störung des Hirnwasserabflusses und – dadurch bedingt – Erhöhung des Hirndruckes)
  • motorische Lähmungen (Muskellähmungen, zum Beispiel Arme, Beine, Blase)
  • epileptische Anfälle
  • sensible Lähmungen (Taubheitsgefühl)
  • Sprachstörungen
  • Persönlichkeitsveränderungen
  • Apathie, Demenz, Hirnleistungsstörungen, Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen
  • Sehstörungen, Gesichtsfeldausfälle
  • ...

Die oben als Folge des Tumorwachstums angeführten Symptome können auch nach jeder Operation als Komplikationen auftreten (entweder erstmals oder verstärkt, entweder vorübergehend oder selten auch auf Dauer bestehend). Grundsätzlich können wie bei jeder Schädeloperation noch folgende Komplikationen auftreten:

  • Wundheilungsstörungen
  • Infektionen, auch Hirn- und Hirnhautentzündung
  • Hirnwasserfistel, eventuell für einige Tage lumbale Dauerdrainage
  • Nervenwasserzirkulationsstörung
  • Nachblutungen, Hirnschwellung sowie Verletzung von Gefäßen (Arterien, Venen, große venöse Blutleiter) können zu Lähmungserscheinungen führen (zum Beispiel Arme, Beine, Hirnnerven, ­Sprache, ähnlich einem Schlaganfall), unter Umständen schwere und dauerhafte Ausfälle
  • Änderungen von Gedächtnis, Antrieb, Wesen usw.
  • Krampfanfälle (epileptische Anfälle): Diese können einmalig, aber auch gehäuft und manchmal auf Dauer auftreten (eventuell Medikamenteneinnahme auf Lebenszeit)
  • Lebensbedrohliche Komplikation
  • Gabe von Fremdblut mit Gefahr übertragbarer Infektion (Leberentzündung, HIV)
  • Thrombose/Lungenembolie, Gabe von Heparinpräparaten zur Vorbeugung (mögliche Nebenwirkungen: Blutplättchenarmut, Blutung, Osteoporose)

Durch Komplikationen kann die Notwendigkeit von Folgeeingriffen entstehen.

Seien Sie durch die Aufzählung der Komplikationsmöglichkeiten bitte nicht beunruhigt, diese treten keinesfalls regelhaft auf. Im Gegenteil, sie bilden die Ausnahme. Treten dennoch Komplikationen auf, können sich Störungen und Ausfälle im Laufe der Zeit wieder zurückbilden. Nur selten kommt es zu schweren bleibenden Störungen.“
 


Der aufklärende Arzt geht mit der Patien­tin den Aufklärungsbogen durch und unterstreicht die von ihm für relevant eingeschätzten Risiken. Einige Tage später erfolgt die Operation.

Intraoperativ wird ein Mediagefäß durchtrennt. Die Frau erleidet – wohl nach einem Mediateilinfarkt – eine dauerhafte linksseitige Hemiparese (Halb­seitenlähmung).

Daraufhin erhebt die Betroffene Klage auf Schadenersatz. Die Klägerin macht geltend, sie sei nicht in dem erforderlichen Umfang über die Schwierigkeit der Operation und die damit einhergehenden Risiken aufgeklärt worden. Konkret beanstandet sie die Passage, wonach es nur selten zu schweren bleibenden Störungen komme. Tatsächlich erleiden bei derartigen Eingriffen 20 Prozent der operierten Patientinnen und Patienten schwere und 30 Prozent moderate neurologische Defizite. Vaskuläre Kom­plikationen treten bei 50 Prozent der Operationen auf. Im Fall der Klägerin war das Risiko aufgrund einer starken Durchblutung des Tumors und dessen Verzahnung mit dem Hirngewebe sogar noch deutlich höher.


Verfahrensgang

Das Landgericht Trier (Urteil vom 28.4.2021, Az.: 4 0 389/17) weist die Klage ab. Das Oberlandesgericht ­Koblenz (Urteil vom 6.10.2021, Az.: 5 U 790121) weist die Berufung der ­Klägerin zurück und lässt die Revision nicht zu. Allerdings hat die Nichtzu­lassungsbeschwerde der Klägerin ­Erfolg. Der Bundesgerichtshof (BGH) hebt das Berufungsurteil auf und verweist den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Oberlandesgericht (OLG) zurück.


Die Entscheidung

Landgericht (LG) und Oberlandes­gericht stellen kein Aufklärungsversäumnis fest. Der aufklärende Arzt habe gegenüber der Klägerin keine Risiken verharmlost. Es entspreche der einhelligen Meinung, dass über die der Operation „im Großen und Ganzen“ anhaftenden Risiken aufgeklärt werden müsse. Die Angabe einer genauen oder annähernd genauen Prozentzahl, zu der sich ein Behandlungsrisiko verwirklichen könnte, sei nicht notwendig. Zu Beginn des Aufklärungsbogens ­findet sich der Hinweis auf eine große Tumoroperation. Der Aufklärungs­bogen benennt als mögliche Folgen Gefäßverletzungen, Lähmungser­scheinungen – ähnlich einem Schlaganfall – und lebensbedrohliche Komplikationen. Der Hinweis auf die Lebensgefahr als die schwerwiegendste mit dem Eingriff verbundene Gefahr vermittelt nach Annahme der Richterinnen und Richter in den ersten beiden Instanzen eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der mit der Operation verbundenen Risiken.

Der BGH folgt den gerichtlichen Bewertungen des LG und OLG nicht. Der Senat stellt vielmehr fest: Erweckt der aufklärende Arzt beim Patienten durch eine unzutreffende Darstellung der Risikohöhe eine falsche Vorstellung über das Ausmaß der mit der Behandlung verbundenen Gefahr und verharmlost dadurch ein verhältnismäßig häufig aufgetretenes Operationsrisiko, kommt er seiner Aufklärungspflicht nicht in ausreichendem Maße nach.

In diesem Punkt haben das LG und OLG nach Ansicht der Bundesrichter den Vortrag der Klägerin nicht ausreichend gewürdigt. Die Klägerin habe die Verharmlosung des Risikos ja nicht nur mit dem Argument begründet, dass der Passus „schwere und dauerhafte Ausfälle“ nicht unterstrichen worden sei, obwohl sonstige relevante Risiken unterstrichen wurden. Sie verweise vielmehr auf den Satz, dass es nur selten zu schweren bleibenden Störungen komme.

Nach Ansicht des BGH wird dieser ­Hinweis den individuellen Risiken der Klägerin nicht gerecht. Im Falle der Klägerin habe das Risiko dauerhafter Schäden aufgrund der Durchblutung des Tumors und der Verzahnung mit dem Hirngewebe deutlich über 50 ­Prozent gelegen. Das Wort „selten“ verharmlose daher das Risiko. Zur Frage wie sich die Klägerin im Falle einer Aufklärung über die Schwierigkeit der Operation und das damit ein­hergehende Risiko, ein Pflegefall zu werden, verhalten hätte, erklärte die Klägerin, sie hätte sich zumindest eine Zweitmeinung eingeholt.


Fazit

Die Entscheidung zeigt, dass die Verwendung eines Aufklärungsbogens das mündliche Aufklärungsgespräch nicht ersetzt. Die Prüfung, ob der Bogen zutreffend formuliert und vollständig ist, obliegt der Ärztin oder dem Arzt. Denn im Einzelfall können Auf­klärungsbögen starke Verallgemeinerungen oder gar Verharmlosungen enthalten, die dem individuellen Patienten nicht gerecht werden und ihm ein daher unzutreffendes Bild des ­eigenen Risikoprofils vermitteln. Die Aufklärung muss individuell erfolgen. Ärztin oder Arzt müssen sich am ­konkreten Risikoprofil des Patienten orientieren. Keinesfalls kann sich die Ärztin oder der Arzt darauf verlassen, den vor­formulierten Bogen zu verlesen. In­halte müssen kritisch hinterfragt ­werden. Die Ärztin oder der Arzt haftet für eine von dem Formular hervorge­rufene Fehlvorstellung, sofern sie beziehungs­weise er diese falsche ­Annahme nicht aufklärt.
 

Sandra Miller
Fachjuristin für Medizinrecht